Folgendes: Jochen Distelmeyer und seine Blumfeld-Jungs hatten sich angekündigt – zum finalen CH-Auftritt. Dumm nur: Das Konzert ist auf den 19. Mai angesetzt, nicht auf den 19. April. Wir: Ungläubiges Staunen, Kopfschütteln, Lachen und schliesslich Lamentieren über das eigene Unvermögen, ein Datum richtig zu notieren, das alsbald jäh unterbrochen wurde von einem Hipster, der lässig an die Wand neben dem Eingang gelehnt stand und die Szenerie beobachtet hatte. - Ha!, rief er: Wer geht schon an ein Blumfeld-Konzert? Es gibt doch James Murphy, der eh bessere Musik macht und uns zudem die Mode- und sonstigen Hedonismen schön sauber diktiert... Wir waren einigermassen irritiert über den Einwurf. - Äh, ja, antwortete ich schliesslich. Erstens: Dein LCD-Murphy ist mir scheissegal. Zweitens: Ich mag Blumfeld gar nicht so. Mich interessieren hingegen die Reaktionen, die ihr neues Album "Verbotene Früchte" ausgelöst haben. Der Vorwurf etwa, Jochen Distelmeyer hätte damit den Rückzug ins Private angetreten. Dass er nicht mehr über, Vorsicht!, relevante Themen wie die "Diktatur der Angepassten" singe, sondern über den "Apfelmann", wie moniert wurde. Dass die Platte das Produkt eines Romantikers oder Biedermeiers gar sei. Diese Vorstellung also, dass an einer Blumfeld-LP die Welt genesen soll. Der ganz normale Feuilleton-Wahnsinn halt. Wer schreibt so was (und das wurde geschrieben, mehr oder weniger verklausuliert, letzten Sommer, pünktlich zum Release des Albums)? Deshalb will man (also ich) an dieses Konzert – denn sicher ist: Die Leute, die die Kulturseiten der Periodika so schön regelmässig zumüllen mit ihren klar immer superwichtigen und superschlauen Kritikergedanken, diese Leute gehen zu Distelmeyer, und sei es nur, um ihn ein letztes Mal den "Penismonolog" singen zu hören. Es ist dieser Schlag Mensch, der steil auf die 40 zugeht, mental irgendwo in der Unizeit stehen geblieben ist, sich im Sommer gerne mit Gleichgesinnten an den Freiluftkonzerten in der Bäckeranlage trifft oder zum Baden am Letten, und dann spätnachts irgendwo noch eine Flasche Rotwein aufstellt, um auf einer Kreis-4-Dachterasse Bacchus zu huldigen und sich gegenseitig emphatisch die Vorteile des urbanen Daseins im kreativen Milieu versichert. Dieser Art Leute kann man bei einem Blumfeld-Gig zuschauen, wie sie nochmals für 90 Minuten ihre 90er-Jahre durchleben. Das macht einen fröstelnd und bereitet irgendwie doch einen irren Spass, nicht? - Hm, doofe Antwort, meinte der Hipster. Nicht doofer als die Frage, dachte ich, und wandte mich zum Gehen.
Und wie wir also von dannen zogen, erzählte ich P von meinem ersten diesjährigen Jochen-Distelmeyer-Moment im "Verbotene-Früchte"-Sinne quasi, der mir letzten Samstag widerfahren ist, als ich mich mit S und (einem anderen) P bereits gut angetrunken um etwa 6 Uhr abends an der Sihl einfand, Höhe El Lokal. Das Programm: Bier, Joints, Sonne, Gespräche. Man glaubte die zu Tode zitierte Leichtigkeit des Seins tatsächlich zu spüren, dort, in diesem Moment. Verliebte Menschen, in Gespräche vertiefte Menschen, lachende Menschen, Blütenduft, umherwehende Gesprächsfetzen, zwitschernde Vögel, die ersten zirpenden Grillen, ruhig dahin fliessendes Wasser, ein Schluck Bier, eine Zigarette, eine Tüte Gras, ein angedeutetes Nicken, ein scheues Lächeln, Schulterklopfen dort, verträumtes in den Himmel blicken hier, ein Blumen pflückendes Kind, ein Stöckchen apportierender Hund und wir sprachen – ja über was eigentlich? So kann sich das Leben also auch anfühlen, dachte ich. Und gleichzeitig durchfuhr mich der einzig mögliche Reflex: Pathosschauer.
Natürlich lehnt man als vernünftig denkender junger Mensch die Naturlyrik im Distelmeyerschen Sinne ab, aber ebenso die lässige Selbstverständlichkeit der etablierten Kulturdeppen. Die wahren Dichter sitzen eh woanders, das bestätigte an eben diesem leichten, blauen, warmen Samstag der "Blick"-Aushang an den Kiosken: In Anspielung auf ein Tötungsdelikt im Aargau prangte dort in schwarzen Lettern auf gelbem Grund die Schlagzeile: "Amoklauf. Der Killer kam im schwarzen Mantel." Nun: Ist das noch Journalismus oder bereits Poesie? Eben. Die wahren Dichter, sie sitzen im Ringier-Pressehaus an der Dufourstrasse.
Sagte ich zu P, bevor wir uns niederliessen an den Gestaden des Zürichsees, um uns von schönen Mädchen zu erzählen und die Enten zu füttern.